«Mein Leben mit Mr. Long»: Tagebuch einer Betroffenen – Teil 3

«Mein Leben mit Mr. Long»: Tagebuch einer Betroffenen – Teil 3

Leben mit Long COVID – wie fühlt sich das an? In ihrem Long-COVID-Tagebuch schreibt Annette Scholer über «Gefühls-Demenz», Riechveränderungen und lästigen Lärm.

Unter dem Titel «Mein Leben mit Mr. Long» veröffentlicht Altea in loser Folge Einträge aus dem Long-COVID-Tagebuch von Annette Scholer. Ihre Erkrankung beschreibt Annette Scholer metaphorisch als «Mr. Long», mit dem sie nun zusammenleben muss. Bereits erschienen:  Teil 1, Teil 2

«Ich wurde im Dezember 50 und freute mich schon lange darauf. Ich dachte mir immer: «Nun starte ich durch und geniesse das Leben. Jetzt komme ich dran!» Doch neun Tage nach meinem Geburtstag hat es mich voll erwischt und alles wurde anders. «Noch das obligate Grippchen namens C überstehen, und dann kann es losgehen», war meine Einstellung – doch dann kam die Ernüchterung. Nichts mehr von durchstarten und das Leben in vollen Zügen geniessen.

Heute bin ich froh, wenn ich einen Tag habe, an dem meine Zunge nicht raushängt vor lauter Erschöpfung. Ich wurde eine Schnecke und bin manchmal froh, wenn ich den Weg zur Toilette noch alleine machen kann. Ab und zu wünschte ich mir, jemand würde mir das Essen wie eine Vogelmutter vorkauen und eingeben, so kraftlos bin ich bisweilen.»

«Wenn es mir schlecht geht, könnte ich mich als wandelnde Leiche in der Geisterbahn anstellen lassen.»

«Ich fühle mich wie ein knackiger Apfel, dem man mit dem «Bütschgiausstecher» einen Teil des Gehirns, den Gefühlskern und die Hummeln im Hinter herausgestochen hat. Meine Gefühle sind einfach weg. Ich weine, weiss jedoch nicht, ob ich vor Erschöpfung weine oder aus Frustration. Wenn es mir dann so schlecht geht, könnte ich mich als wandelnde Leiche in der Geisterbahn anstellen lassen. In den Spiegel schaue ich nicht so oft – ich möchte mich nicht selber vor mir erschrecken.

Img 5950 WebAnnette Scholer, die im Dezember 2021 an COVID-19 erkrankte, führt Tagebuch über ihr neues Leben mit «Mr. Long». (Bild: privat)

«Wenn wir uns mal auf einen kleinen Ausflug wagen (spätestens nach dreieinhalb Stunden bin ich ausgepowert) und es mir dann schlecht geht, darf mein Freund heimfahren. Er ist mein Retter in dieser Situation. Wenn man aber über 30 Jahre immer selbst am Steuer sass und dies auch zu deinem Beruf gehört, ist es nicht einfach.

Mein Freund muss einiges aushalten, da ich seinen Fahrstil nicht ausstehen kann. Doch er erträgt meine Kritik mit ungeheurer Geduld und fährt mich sicher nach Hause. Kurze Strecken gehen ohne Hilfe. Ansonsten warte ich, bis es mir wieder besser geht. Dies kann bis zu einer Stunde dauern.»

«Ich bin wie Siri: Ich kann eine Emotion beschreiben, aber nicht erleben. Gefühls-Demenz nenne ich das.»

«Wut über jemanden oder über meine aktuelle Situation spüre ich nicht. Ich bin wie Siri, die Stimme aus dem iPhone: Sie kann eine Emotion beschreiben, aber nicht erleben. So ist es auch bei mir. Ich weiss, dass man Menschen lieben kann, aber ich fühle es nicht mehr. Mitgefühl mit jemandem zu haben, geht auch nicht.

Sämtliche Emotionen sind wie vergessen. Gefühls-Demenz nenne ich das, in der Hoffnung, dass sie vielleicht irgendwann doch wieder auftauchen. Demenz kann man trainieren, wenn Menschen um dich sind, die wissen, wie das geht. Ich denke sowieso nicht mehr so viel, das strengt mich zu sehr an. Ich bin froh, wenn der Tag vorüber ist und ich alle Termine wahrnehmen konnte, die anstanden.»

«Manchmal kleben Düfte so penetrant in der Nase, dass ich sie fast nicht mehr hinausbringe.»

«Riechen und Schmecken ist auch noch so ein Thema. Das geht nur mit starken Gerüchen. Daher würze ich schon länger mit Kräutern und Pfeffer, dann schmeckt das Essen. Zitrusfrüchte rieche ich auch. Doch manchmal habe ich Düfte in der Nase, die ich nicht unbedingt riechen möchte. Dann kleben diese so penetrant in der Nase, und ich bringe sie fast nicht mehr hinaus. Dann schmeckt das Essen nach einem Sch...häuschen. Ärgern kann ich mich darüber bekanntlich nicht.

Lärm- und geräuschempfindlich wurde ich auch. Oft müssen meine Tochter und mein Freund sich anhören, sie sollten mich nicht anschreien. Das Geklirre des Besteckes nervt, laute Autos, laute Musik, lautes Fernsehen, sogar lautes Schnaufen oder Essen geht mir gewaltig auf die Nerven. Die Hektik der Menschen und das schnelle Sprechen sind auch kaum auszuhalten.»

«Ich mache öfters Pausen als früher und höre viel mehr auf meinen Körper.»

«Mr. Long hat aber auch gute Seiten. Ich nehme alles viel bewusster wahr. Ich mache öfters Pausen als früher und höre viel mehr auf meinen Körper. Ich merke nun auch, wenn es mir zu viel wird. Dann versuche ich zu delegieren, was für mich überhaupt nicht einfach ist. Ich geniesse es, auf dem Sitzplatz zu stehen um mich an den blühenden Bäumen, Gebüschen und Blumen zu erfreuen. Auch das Schreiben habe ich wieder entdeckt. Ich schreibe gerne, doch der Stoff ging mir vor längerem aus. Nun habe ich wieder einiges, welches ich zu Papier bringen möchte.»