«Mein Leben mit Mr. Long»: Tagebuch einer Betroffenen – Teil 1

«Mein Leben mit Mr. Long»: Tagebuch einer Betroffenen – Teil 1

Leben mit Long COVID – was bedeutet das eigentlich? Wie fühlt es sich an? In ihrem Long-COVID-Tagebuch gibt Annette Scholer Einblicke in ihr «Leben mit Mr. Long».

Unter dem Titel «Mein Leben mit Mr. Long» veröffentlicht Altea in loser Folge Einträge aus dem Long-COVID-Tagebuch von Annette Scholer. Ihre Erkrankung beschreibt Annette Scholer metaphorisch als «Mr. Long», mit dem sie nun zusammenleben muss.

«Mr. Long hat mich seit bald drei Monaten fest im Griff und begleitet mich auf Schritt und Tritt. Er klebt an mir wie zäher Schleim, wie eine Drohne beobachtet er mich mit Adleraugen. Kein Schritt geht mehr ohne ihn. Mr. Long ist momentan unzerstörbar und stärker, als ich dachte. Je mehr ich vor ihm davonrenne, desto stärker klebt er an mir. Er hat mich mit seinem Gummiband gnadenlos von der Überholspur nach ganz rechts auf die «Schneckenstrasse» katapultiert. Ohne Rücksicht auf das, was ich will.»

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«Weigern, sträuben, sich aufbäumen wird gnadenlos mit Bewegungsunfähigkeit bestraft. Wie mit einem Fausthieb werde ich knallhart niedergestreckt. Wenn ich Glück habe, habe ich noch Zeit, um mich aufs Sofa zu legen oder ins Bett. Gibt Mr. Long mir mehr Zeit, muss ich mir so schnell wie möglich (aber das geht momentan auch nicht so gut) eine Sitzgelegenheit suchen, zudem ganz ruhig werden und tief ein- und ausatmen. 15 bis 20 Minuten dauert es, bis das Kräuseln in Armen und Beinen aufhört. Erst dann kann ich wieder in Erwägung ziehen, mich langsam zu erheben.»

«Mir fällt plötzlich auf, wie gestresst die Menschen um mich sind.»

«Wenn ich ganz langsam und bewusst spazieren gehe (Mr. Long will das so), fällt mir auf, wie gestresst die Menschen um mich herum sind. Zu meinem Leidwesen sind selbst die Rentner schneller als ich. Die meisten, denen ich begegne, sehen gestresst aus, haben das Handy in den Fingern, blicken stur nach vorne – man könnte ja angesprochen werden. Sie haben keine Zeit, keine Ruhe. Sie essen, sprechen und laufen, und das alles zur gleichen Zeit.

Zuhören kann auch sehr anstrengend sein. Mir fällt auf, wie schnell und ohne Punkt viele Menschen sprechen. Luft holen? Fehlanzeige. Vielleicht haben die ja Kiemen?! Es fehlt ihnen wahrscheinlich die Zeit, um langsamer zu sprechen, denn sie sind im Kopf bereits beim Einkaufen, Heimfahren, oder diesem und jenem, was noch gemacht werden sollte.»

«Mr. Long ist sehr, sehr streng zu mir.»

«Solche Mehrfachbelastungen aus dem Alltag «normaler» Menschen traue ich mir nicht mehr zu. Mr. Long ist sehr, sehr streng zu mir und würde mich den ganzen Tag flachlegen, wenn ich dies ausprobieren würde. Pläne machen habe ich beerdigt. Wünsche, was ich noch machen, ansehen, erleben möchte, sind in weite Ferne gerückt. Ich lebe nur noch im Hier und Jetzt. Was gestern war, interessiert «Miss Gedächtnis» nicht. Was morgen ist, auch nicht. Sie will sich einfach nicht mehr anstrengen.

Ja, mein Alltag wurde radikal umgedreht. Miss Gedächtnis macht nur dann mit, wenn sie will und ich ihr genug Zeit gebe, sich aus dem Schlafmodus zu erheben, um zu funktionieren. Ansonsten bleibt sie gnadenlos liegen.»

«Ich bemerke die Anzeichen der Erschöpfung erst viel später als mein Partner.»

«Mr. Long zwingt mich, all seine Launen mitzumachen. Mein Freund ist in dieser Hinsicht toleranter. Er lässt ab und zu die Fünf gerade sein – schaut mich aber streng an und denkt sich wohl seine Sache. Dann merke ich selbst, dass ich mir zu viel vorgenommen habe.

Mein Freund sieht es mir an, wenn der Körper anfängt zu streiken. Dann sagt er mir: «In fünf bis zehn Minuten geht nichts mehr.» Ich bemerke die Anzeichen der Erschöpfung erst viel später. Mein Freund macht zum Glück alles geduldig mit, passt sich meinem Tempo an. Nicht einfach für einen hyperaktiven und immer auf Zack lebenden Menschen.»

«Loslassen bringt mehr als zu sagen: Ich will, ich muss, ich sollte noch…»

«Wie lange das noch dauern wird? Ich habe aufgehört, daran zu denken und zu grübeln. Ich lerne, in den Tag zu leben und alles auf mich zukommen zu lassen. Schwierig für eine, die vorher immer alles im Griff hatte.

Eine Sache oder einen Termin nehme ich mir am Tag vor, vor allem mich etwas zu bewegen. Wenn danach noch etwas geht, umso besser. Abgeben, loslassen, vertrauen und sich damit abzufinden bringt mir mehr Energie, als zu sagen: Ich will, ich muss, ich sollte noch… Nur noch kleine Tagesziele setzen, dann klappt alles ganz gut. Ich bin meistens zufrieden, wenn ich ein solches Zückerchen noch bekomme.»

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