Forschung zu Long COVID: «In einem halben Jahr sind wir hoffentlich weiter»

Forschung zu Long COVID: «In einem halben Jahr sind wir hoffentlich weiter»

Wie ist der aktuelle Stand des Wissens zu Long COVID? Epidemiologe Milo Puhan gibt Auskunft zu Risikofaktoren, Therapiestudien und zur Omikron-Welle.

Kaum jemand weiss in der Schweiz so gut Bescheid über Long COVID wie Milo Puhan. Der Epidemiologe der Universität Zürich verfasst für das Bundesamt für Gesundheit (BAG) regelmässig den Bericht zum Stand der Forschung und forscht selber zum Thema.

Milo Puhan, Omikron rauscht mit nie gekannten Fallzahlen durch das Land. Wie gross ist das Risiko für Long COVID bei dieser Variante?

Die grosse Ansteckungswelle begann im Januar mit einem vorläufigen Höhepunkt Ende Januar. Wie viele von den Infizierten an Long COVID leiden, kann man aber erst nach drei Monaten sagen. Auch andere Länder, in denen Omikron etwas früher aufgetreten ist, haben keinen grossen Vorsprung, der uns helfen könnte. Mit Omikron ist es wirklich brutal schnell gegangen. Deshalb wissen wir darüber noch zu wenig.

Trotzdem: Sieht man erste Tendenzen?

Es gibt bis jetzt nur Hypothesen. Man könnte vermuten: Es ist immer noch das gleiche Virus, also sind auch ähnlich viele Langzeitfolgen zu erwarten. Oder man denkt, aufgrund der leichteren Verläufe sei auch Long COVID seltener. Das sind aber alles Spekulationen. In der Schweiz werden wir ab April/Mai erste Hinweise sehen. In den Studien von Corona Immunitas schauen wir das gezielt an.

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Milo Puhan, Professor für Epidemiologie an der Universität Zürich und Forscher im Bereich Long COVID. (Bild: zVg)

Sie untersuchen Long COVID selbst mit einer Kohortenstudie. Was ist das eigentlich genau?

Eine Kohorte ist eine Gruppe von Probandinnen und Probanden, die man über einen längeren Zeitraum hinweg immer wieder befragt und untersucht. So kann man herausfinden, wie sich ihr Gesundheitszustand im Lauf der Zeit verändert, und von welchen Faktoren er beeinflusst wird. Bei Long COVID ist ein solches Studiendesign natürlich sehr interessant.

Und was untersuchen Sie mit Ihrer Zürcher Kohortenstudie?

Die Kohorte besteht aus rund 1’550 Personen, die ab Februar 2020 positiv auf das Coronavirus getestet wurden. Wir beobachten, wer Langzeitsymptome entwickelt, wie lange sie anhalten, und wie schwer sie sind.

Ein erstes Resultat: Nach 6 Monaten fühlten sich 25 von 100 Personen nicht vollständig erholt und führten das auf die Infektion zurück. Von diesen 25 sind 18 leicht beeinträchtigt und vier mittelschwer. Mittelschwer bedeutet, dass sie beispielsweise nicht mehr voll arbeiten können. Drei sind stark beeinträchtigt. Bei starker Beeinträchtigung durch Beschwerden wie Müdigkeit, Kurzatmigkeit oder Konzentrationsschwächen können Betroffene nur noch sehr eingeschränkt am sozialen und beruflichen Leben teilnehmen.

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6 Monate nach einer Infektion fühlen sich 25 von 100 Infizierten noch nicht vollständig genesen. (Grafik: Milo Puhan, UZH)

Nach weiteren 6 Monaten haben sich von den 25 betroffenen Personen 9 vollständig erholt, 16 nicht oder nur teilweise. Eine Person ist noch schwer beeinträchtigt, 3 noch mittelschwer. Es treten also natürliche Verbesserungen ein, aber nicht bei allen, und nicht bei allen gleich stark.

Können die Beschwerden chronisch werden?

Es ist noch zu früh, um das sagen zu können. Bei den allermeisten wird es besser, aber ob das bei allen der Fall ist, wissen wir noch nicht. Wichtig ist auch, dass die Diagnose sauber gestellt und abgeklärt wird, ob die Beschwerden nicht andere Ursachen haben.

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Ein Jahr nach der Infektion spüren noch 16 von 100 Infizierten Langzeitfolgen. (Grafik: Milo Puhan, UZH)

Wer ist besonders gefährdet, von Langzeitfolgen betroffen zu sein?

Da spielen bestehende Vorerkrankungen sicher eine Rolle. Je schlechter es einem vor der Infektion geht, umso empfindlicher ist man. Welche Vorerkrankungen wie starken Einfluss haben, ist aber offen. Asthma zeigt sich relativ konsistent als Risikofaktor. Bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist es weniger klar. Auch das schauen wir uns in der Kohortenstudie genauer an.

Stichwort Therapien: Wie weit sind wir hier inzwischen?

Es gibt noch keine Therapie, die Long COVID heilt. Was hilft, ist ein bewusster Umgang mit den eigenen Kräften, das sogenannte Energiemanagement oder «Pacing». Dabei geht es darum, Rückschläge so gut es geht zu verhindern. Auch sollten die Betroffenen nicht zu schnell wieder zu viel machen.

Dann gibt es Therapien für gewisse Symptome wie Kurzatmigkeit, die man von anderen Krankheiten her kennt. Da gibt es Erfahrungswerte. Und wir wissen von anderen Viruserkrankungen, dass manche Personen relativ lange eingeschränkt sind.

Wir fangen also nicht bei Null an. Aber im Therapiebereich muss noch sehr viel passieren. Weltweit laufen diverse Therapiestudien, aber es ist noch praktisch nichts publiziert. In einem halben Jahr sind wir diesbezüglich hoffentlich weiter.

«Im Therapiebereich muss noch sehr viel passieren.»

Wie gut werden Betroffene in der Schweiz im Vergleich zum Ausland versorgt?

In der Schweiz ist es wie in vielen anderen Ländern auch: Es gibt viele lokale Initiativen für die Betroffenen, aber auf Ebene des gesamten Gesundheitssystems gibt es noch in den wenigsten Ländern eine Strategie.

Ein Beispiel für ein Land mit einer Gesamtstrategie ist England. Dort gibt es ein gutes Onlineangebot und eine App, wo Betroffene Informationen bekommen und das Selbstmanagement gefördert wird. Die Hausärzte werden unterstützt, und es gibt diverse spezialisierte Sprechstunden. Dahinter steckt ein klarer Plan, und das hat schon im Jahr 2020 begonnen.

In der Schweiz ist alles vorhanden, um das ähnlich anzugehen. Es gibt Informationsplattformen wie Altea, engagierte Hausärztinnen, die man noch besser unterstützen könnte, und spezialisierte Sprechstunden. Die operieren allerdings noch relativ unabhängig voneinander. Die verschiedenen Initiativen sind bis jetzt noch nicht konsistent zusammengeführt. Die Versorgungssituation wird derzeit vom BAG evaluiert.

Wäre dafür nicht das oft diskutierte Register nützlich?

Ein Register kann unterschiedlich aufgebaut sein und verschiedenen Zwecken dienen. Das ist nicht einfach ein Zählen der Gesamtzahl von Fällen, das wäre derzeit sowieso nicht vollständig möglich. Für die Versorgungsforschung könnte ein Register hilfreich sein, wenn es eine minimale Standardisierung gibt, die bei der Charakterisierung der Fälle hilft. Art und Schwere der Symptome differieren bei Long COVID ja stark. Für die Bestimmung der Gesamtzahl der Fälle sind aber andere Instrumente wie Kohortenstudien geeigneter.

Welche zusätzliche Unterstützung bräuchten Hausärzte? Würden Richtlinien helfen, wie sie aus anderen Ländern bekannt sind?

Hilfreich wäre sicher ein standardisiertes Assessment, um die Beschwerden zu objektivieren und eine Grundlage für die Triage zu haben: Leichte Fälle können von den Hausärztinnen betreut werden, Personen mit organspezifischen Komplikationen können an Spezialistinnen überwiesen werden, und die komplexen Fälle in die interdisziplinären Sprechstunden.

Punkto Richtlinien ist es auch nicht so, dass es noch gar nichts gibt. So haben etwa die Pneumologen eine erstellt. Und man sollte nicht vergessen: Ein hundertseitiges Dokument, das im Alltag niemand konsultieren kann, nützt nur bedingt. Die beste, praxistauglichste Guideline hat auf einer Seite Platz. Mitte März wurde ein erstes kompaktes Assessment aus der Versicherungsmedizin vorgestellt, erarbeitet vom Universitätsspital Basel und mit unserer Beteiligung. Diese Empfehlung wird auch für Hausärzte nützlich sein.

Dies ist die leicht gekürzte Fassung eines Interviews, das zuerst auf der Seite der Universität Zürich und im Blog ges.UND? des Instituts für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention (EBPI) publiziert wurde.

 

Zur Person: Milo Puhan
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