Long COVID: Lohnausfall, Krankentaggeld, Versicherung - wie vorgehen?

Wer wegen Long COVID arbeitsunfähig wird, kann in eine paradoxe rechtliche Mühle geraten. Mit dem richtigen Vorgehen bekommt man aber trotzdem Unterstützung.

Anwältinnen und Anwälte des Verbands Covid Langzeitfolgen nehmen im Altea-Blog Stellung zu rechtlichen Fragen, mit denen Betroffene konfrontiert sind. In diesem Beitrag befasst sich Christian Haag mit Fragen zur Krankentaggeldversicherung. Der folgende fiktive Fall basiert auf realen Zuschriften: 

Ich bin letzten Frühling an Covid-19 erkrankt. Bis heute bin ich wegen Long-COVID nicht wieder arbeitsfähig (starke Fatigue, körperliche und geistige Leistungsschwäche). Mein Hausarzt attestiert mir eine hundertprozentige Arbeitsunfähigkeit. 

Den Lohnausfall übernahm zunächst die Krankentaggeldversicherung meiner Arbeitgeberin. Diese liess ein externes Gutachten erstellen, das beim Lungenspezialisten keine «medizinisch messbaren Beweise» hervorbrachte. Unterdessen habe ich die Kündigung des Arbeitgebers erhalten. Die Krankentaggeldversicherung teilt mir nun mit, dass sie die Versicherungsgelder Ende Monat einstellt. Ich stehe ohne jegliche finanzielle Unterstützung da, kann aber unmöglich arbeiten, auch mein Hausarzt sieht das so. Wer kommt nun für mich auf? 

Der Gutachter der Krankentaggeldversicherung ist nicht neutral und unabhängig, er gilt vor Gericht als parteiisch. 

In Ihrem Fall kommen mehrere Versicherungen infrage – die Krankentaggeldversicherung, die Invalidenversicherung und die Arbeitslosenversicherung. 

Die Krankentaggeldversicherung stuft Sie gestützt auf ihr Gutachten als arbeitsfähig ein, weshalb sie ihre Taggeldleistungen einstellen wird. Diese medizinische Einschätzung ist aber nicht in Stein gemeisselt: Der Gutachter der Krankentaggeldversicherung ist nicht neutral und unabhängig, sondern parteiisch. Er wird von der gewinnorientierten Krankentaggeldversicherung ausgewählt und bezahlt. Im Rahmen eines allfälligen Gerichtsverfahrens gegen die Krankentaggeldversicherung gilt dieses Gutachten lediglich als Parteibehauptung. 

Gerichtsverfahren kann sich lohnen 

Die Einschätzung des Gutachters der Krankentaggeldversicherung kann fachmedizinisch durchaus falsch und beweisrechtlich unbeachtlich sein. Es ist daher prüfenswert, rechtlich gegen die Krankentaggeldversicherung vorzugehen. Dazu ist der Beizug eines spezialisierten Anwalts ratsam. Die Verjährungsfrist für Ansprüche aus Krankentaggeldversicherung beträgt zwei Jahre. Ein rechtliches Vorgehen gegen die Krankentaggeldversicherung kann schnell ein halbes Jahr oder deutlich länger dauern. 

Vor Gericht ziehen oder nicht? Das gilt es sorgfältig abzuwägen.

Bei einer Arbeitsunfähigkeit von mehr als einem Jahr kann unabhängig von der Krankentaggeldversicherung die Invalidenversicherung (IV) leistungspflichtig werden: Sie gelten als invalid im Sinne der IV, wenn Sie ein Jahr lang ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens 40 % arbeitsunfähig waren und nach Ablauf dieses Jahres voraussichtlich längere Zeit weiterhin mindestens 40 % eingeschränkt sind.  

IV: Frühzeitige Anmeldung empfohlen 

Um sicherzugehen, dass keine IV-Leistungen verwirken, rate ich vorsorglich zu einer Anmeldung bei der IV. Die IV-Rente setzt nämlich frühestens 6 Monate nach Anmeldung ein, weshalb Krankentaggeldversicherungen nach 6 Monaten Arbeitsunfähigkeit auf eine IV-Anmeldung drängen. Die Abklärungen der IV können allerdings rasch über ein Jahr dauern. Die IV (und daran gekoppelt eine allfällige Pensionskasse) zahlt oft erst, wenn ein Gutachten einen «IV-relevanten» Gesundheitsschaden bestätigt. Dazu ist nicht selten eine rechtliche Auseinandersetzung nötig, manchmal gar ein Gerichtsverfahren. 

Rechtsweg kann nötig werden 

In Ihrem Fall (negatives Gutachten der Krankentaggeldversicherung) ergeht oft zuerst ein negativer IV-Entscheid, gegen den der Rechtsweg nötig ist. Dieser kann erfolgversprechend sein, weil der Gutachter der Krankentaggeldversicherung nicht neutral und objektiv ist, und vor allem wenn er wichtige fachmedizinische Aspekte falsch beurteilt hat. Erfahrungsgemäss dauert es in solchen Fällen aber Monate, teilweise weit über ein Jahr, bis ein definitiver (und hoffentlich positiver) Entscheid der IV oder eines Gerichts erfolgt. Bis dahin fliessen meist noch gar keine Leistungen der IV. 

Bis ein definitiver Entscheid der IV vorliegt, kann es über ein Jahr dauern. 

Die dritte Versicherung ist schliesslich die Arbeitslosenversicherung. Diese setzt voraus, dass jemand vermittlungsfähig und vermittlungsbereit ist. Wenn eine Person 100 % arbeitsunfähig ist oder sich als 100 % arbeitsunfähig betrachtet, sind diese Voraussetzungen nicht gegeben: Wer nicht arbeiten kann (nicht vermittlungsfähig und/oder -bereit), kann auch nicht arbeitslos sein. 

Sie sind also in einer paradoxen Situation: 

  • Ihre Ärzte stufen Sie als arbeitsunfähig ein, Sie selber sich auch. 
  • Gemäss Gutachten der Krankentaggeldversicherung gelten Sie als arbeitsfähig, womit Sie einstweilen keine Krankentaggelder erhalten. 
  • Die IV sollte einspringen, tut dies aber (noch) nicht. 
  • Die Arbeitslosenversicherung setzt Arbeitsfähigkeit voraus. 

Wer 20 % arbeitsfähig ist, hat Anspruch auf ein volles Arbeitslosentaggeld. 

Rechtlich wird dieses Paradoxon durch die Vorleistungspflicht der Arbeitslosenversicherung gelöst. Bis zu einem Entscheid der IV gelten Sie im Zweifel als arbeitsfähig. Während des hängigen IV-Verfahrens sollte deshalb so der gesetzgeberische Wille die Arbeitslosenversicherung Ihre prekäre Situation überbrücken: Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist die Arbeitslosenversicherung vorleistungspflichtig bei hängigem IV-Verfahren und angepasster Restarbeitsfähigkeit von 20%. Ist die arbeitslose, beeinträchtigte Person mindestens 20% arbeitsfähig (und entsprechend vermittlungsfähig) und arbeitswillig, besteht demnach ein Anspruch auf ein volles Arbeitslosentaggeld. 

Auf diesem Weg besteht die Möglichkeit, dass Sie ein Ersatzeinkommen erhalten. 

Um von der Vorleistungspflicht der Arbeitslosenversicherung zu profitieren, ist folgendes Vorgehen sinnvoll: 

  • Lassen Sie sich von Ihrem Hausarzt im Arztzeugnis eine «Restarbeitsfähigkeit von 20 % in einer beschwerdeadaptierten Tätigkeit, versuchsweise» attestieren. Sie müssen Ihrem Hausarzt erklären, dass das nötig ist, damit die Arbeitslosenversicherung zahlt. 
  • Melden Sie sich beim RAV an. Deklarieren Sie klar, dass Sie gemäss Hausarzt in angepasster, zumutbarer Tätigkeit zu mindestens 20 % arbeitsfähig und in diesem Umfang arbeitswillig seien, eine Stelle suchten und diese auch antreten werden. Deshalb sei ein volles Arbeitslosentaggeld im Sinne der Vorleistungspflicht der Arbeitslosenversicherung auszurichten. Lassen Sie sich nicht abwimmeln und bestehen Sie darauf, dass Ihre Anmeldung entgegengenommen wird. 
  • Wenn es beim RAV Probleme gibt, verweisen Sie auf das Gutachten der Krankentaggeldversicherung, gemäss welchem Sie arbeitsfähig seien. 
  • Sprechen Sie mit Ihrem RAV-Berater ab, wie viele Arbeitsbemühungen Sie monatlich vorweisen müssen und bewerben Sie sich auch in diesem Umfang, auch wenn es absurd und sinnlos erscheint.  
  • Beachten Sie auch weitere Infos in diesem Merkblatt. 

Gegen die Krankentaggeldversicherung kann möglicherweise auch noch zu einem späteren Zeitpunkt vorgegangen werden. Auf dem Weg über die Vorleistungspflicht der Arbeitslosenversicherung besteht aber die Möglichkeit, dass Sie Ersatzeinkommen erhalten und damit zumindest die finanziellen Einbussen gemildert werden. 

Jeder Fall ist anders. Im Zweifelsfall kann daher der Beizug eines spezialisierten Anwalts sinnvoll sein. Prüfen Sie zudem auch, ob Sie eine Rechtsschutzversicherung haben, oder ob allenfalls via Krankenkasse, Zusatzversicherung, Hausratversicherung oder TCS (Touring Club Schweiz) eine Rechtsschutzdeckung besteht. Diese wird ihnen helfen, die Anwaltskosten zu tragen. 

Rechtsanwalt Christian Haag (lic. iur.) ist Fachanwalt SAV für Haftplicht- und Versicherungsrecht und Partner bei Häfliger Haag Häfliger (www.anwaltluzern.ch) und Präsident des Verbandes «Covid Langzeitfolgen».